Samstag, 7. Juli 2012

Bauchreden hilft

Liebe Leserinnen und Leser,

ich wusste schon länger, dass der Bauchredner Paul Winchell tot ist. Ich wusste es nicht erst seit dem Eintrag neulich, als ich über einige bekannte Bauchredner geschrieben habe. Doch erst Anfang der Woche bekam ich so etwas wie eine Ahnung davon, was die Dinge, von denen er im letzten Kapitel seines Buches "Ventriloquism For Fun & Profit" schrieb bedeuten könnten. Dieser Eintrag heute käme einem Brief oder einer E-Mail an ihn nicht annähernd gleich. Aber ich fürchte, es ist das einzige, was mir jetzt noch bleibt. Denn so sehr ich ihm auch gerne geschrieben hätte, ich kann es nicht mehr. Also bleibt mir nur dieser Blog-Eintrag hier.

Im letzten Kapitel spricht Paul Winchell sich vor allem für 2 Dinge aus: zum einen Bauchreden in die Schulen zu bringen als Unterricht, zum anderen Bauchreden als quasi Sprachtherapie zu nutzen beispielsweise für Stotterer und für Personen, die lispeln. Seine Argumente dabei sind so bestechend wie einfach und logisch zugleich:

Wir alle haben uns wahrscheinlich gleich viel geärgert über die scheinbar sinnlosen Unterrichtsstoffe der höheren Schulklassen. Allem voran im Bereich Mathematik kommen in den höheren Klassen Dinge dran, die so fern vom Alltag entfernt sind wie nur irgendwas. Damit sind sie nicht völlig sinnlos, aber wer nicht gerade einen Beruf ergreifen will, in dem diese Mathematikkenntnisse nötig sind, der wird tatsächlich diese Dinge nie wieder nutzen und das wird wohl der größte Teil der Schüler sein, die sich trotzdem durch den Stoff quälen müssen.

Paul Winchells Argument ist, dass statt dessen Bauchreden zu lehren und lernen weitaus sinnvoller ist. Dadurch dass in jedem Fall immer beide Hände gleichzeitig benutzt werden fürs Bauchreden: eine Hand um die Puppe zum Leben zu erwecken und die andere Hand für den Bauchredner selbst, und sei es nur zum Gestikulieren. Durch das Benutzen beider Hände werden beide Gehirnhälften aktiviert, verbunden und gleichzeitig benutzt. Es ist eine Sache, zu sagen, Aufsätze zu schreiben fördert strukturiert und gut argumentieren zu können. Es ist eine völlig andere Sache, finde ich, wenn man nicht nur unterhalten kann und Kreativität fördert, sondern auch beide Gehirnhälften mehr zusammen bringt. Was ist hier wirklich langfristig sinnvoll und ein echtes Argument?

Was das Stottern angeht, sagt Paul Winchell, dass dies bei Kindern auftritt, die schneller denken können, als es ihnen möglich ist ihre Gedanken auszusprechen. Ihre Gedanken sind zu schnell für ihre Zunge. Als Folge davon stottern sie. Als Bauchredner muss man erst einmal die Puppe zum Leben erwecken und dann einerseits für sich reden, gleichzeitig überlegen, was die Puppe als nächstes sagt und wenn die Puppe etwas sagt, gleichzeitig überlegen, was man selbst darauf antwortet. Das Kind muss also viel im Kopf haben. Das Verlangsamt die vielen schnellen Gedanken und damit hört auch das Stottern auf.

Lispeln, so sagt Paul Winchell, ist eine bestimmte Art S-Laute anders auszusprechen als andere nicht lispelnde Menschen. Für das Lispeln werden S-Laute durch das englische th ersetzt. Bauchreden ist ähnlich. Etwa eine Hand voll Buchstaben werden normalerweise mit den Lippen gebildet. F beispielsweise ist so ein Buchstabe. Aber bildet man F-Laute durch das englische th, bekommt man einen ganz guten Ersatz für F. Das Lispeln bekommt man auf die gleiche Weise weg. Wenn ein lispelndes Kind den Lautersatz für das Bauchreden versteht und anwenden kann, dürfte es kein Problem darstellen das gleiche Prinzip für S-Laute anzuwenden und das Lispeln ist Geschichte, wie man so schön sagt.

Anfang der Woche nun dachte ich über meine eigene Behinderung nach. Seit meiner Geburt ist mein Oberkiefer, mein oberer Gaumen und meine Oberlippe zweimal gespalten. (Doppelte Lippen-Kiefer-Gaumenspalte nennt sich die Behinderung entsprechend.) Das heißt, jetzt nicht mehr. Es wurde natürlich operiert. Vor den Operationen ist der Gaumen oben offen und die Oberlippe auch nicht geschlossen.  Das heißt ja, dass Kinder mit dieser Behinderung, wenigstens bis entsprechende Operationen stattgefunden haben, ihre Oberlippe nicht richtig gebrauchen können. Beim Bauchreden braucht man seine Lippen erst gar nicht.

Ich wünschte, ich hätte früher über das Bauchreden, Lautersatz und Lautbildung überhaupt erfahren. Ich glaube, Bauchreden ist auch für Menschen mit einer Behinderung wie ich sie habe eine Chance. Manche Buchstaben sprechen wir nämlich anders aus und hören sie bei uns selbst auch anders als sie dann tatsächlich für andere klingen. Deshalb müssen Menschen mit einer Behinderung wie meiner auch oft zu Sprachtherapeuten. Durch den Lautersatz beim Bauchreden sprechen Menschen ohne eine Behinderung wenigstens auch undeutlicher bzw. schlechter als normal. Außer sie alle lernen den Lautersatz zu perfektionieren.

Paul Winchell war auch derjenige, der in seinem Buch geschrieben hat, dass die Zungenspitze bei D, N und T an der gleichen Stelle den Gaumen. Das habe ich bisher in keinem anderen Buch gelesen und meine Lautbildung ist nicht unbedingt als Maßstab zu nehmen bei meiner Behinderung. So ist T etwa einer der Buchstaben, die für Menschen mit einer Behinderung wie ich problematisch sein können. Paul Winchells Hinweis war da für mich eine guter Hinweis wohin mit der Zungenspitze für das T.

Ich hatte vor einigen Wochen einmal meine Stimme aufgenommen. Einfach um zu hören, wie ich jetzt klinge. Ich hatte nur von früher als Kind von Aufnahmen meine Stimme im Kopf. Ich wollte wissen, wie ich jetzt spreche. Ich brauchte mehrere Anläufe, um überhaupt den Aufnahmeknopf zu drücken. Ich zwang mich am Computer meine Stimme aufzunehmen. Das erste Mal ging schief, weil ich die Stecker für Mikro und Kopfhörer genau falsch reingesteckt hatte. Ich hatte nichts aufgenommen. Das zweite Mal ging die Anzeige für den Ton in den grünen Bereich. Nachdem ich die 2 Sätze zum Mikro einstellen gesprochen und aufgenommen hatte, war ich dann doch neugierig und wollte direkt hören, wie ich klang. Ich löschte die Aufnahme direkt, nachdem ich mich gehört hatte. Ich weiß, viele Menschen finden ihre eigene Stimme schrecklich. Trotzdem denke ich, sollte ich einmal einen Text mit Lautersatz sprechen. Immerhin hören sich dann alle Menschen gleich schrecklich an. Bauchreden gibt gleiches Recht für alle.

Während ich diesen Eintrag schreibe kommt wieder die Traurigkeit von Anfang der Woche hoch. Dieser Eintrag erscheint mir so sinnlos. Aber das, was ich wirklich möchte, Paul Winchell zu schreiben, ist nun mal nicht mehr möglich. Ich bin gut 7 Jahre zu spät. Paul Winchell starb 2005 im Alter von 82 Jahren eines natürlichen Todes (laut wikipedia). Was bleibt ist dieser Blog-Eintrag.

Bis zum nächsten Blog,
sarah

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