Sonntag, 17. Februar 2019

Jeffrey

Im Folgenden gebe ich eine Geschichte wieder, die Ismael in "Ismaels Geheimnis" erzählt. Sie ist erfunden und doch für so viele Jugendliche unserer Geschichte wahr, nicht genau gleich, aber in abgewandelter Form. Deshalb möchte ich sie hier wiedergeben. Abgesehen davon, dass ich die neue Rechtschreibung benutzt habe, steht sie so in dem Buch "Ismaels Geheimnis". Das Ende ist heftig, aber genau so wahr, wie alles andere in der Geschichte. Ich würde gerne viel Spaß beim Lesen wünschen, aber ich glaube, das wäre unpassend. Ich hatte auch überlegt, ob ich die Geschichte nur wiedergebe und nicht abtippe. Aber ich finde, Ismael sollte hier reden (Daniel selbst hat mir eine etwas gekürzte englische Version geschickt, ich habe die deutsche nun danach angepasst, ansonsten ist die Geschichte aber vollständig, ihr könnt sie auf den Seiten 217-220 in "Ismaels Geheimnis" nachlesen):

Meine Wohltäterin Rachel Sokolow zählte im College einen jungen Mann namens Jeffrey zu ihren Freunden, dessen Vater ein reicher Chirurg war. Jeffrey wurde im Leben vieler Menschen damals und auch später zu einer wichtigen Person, weil er die Leute vor ein Problem stellte. Er wusste einfach nicht, was er mit sich anfangen sollte. Er war attraktiv, intelligent, sympathisch und zeigte bei fast allem, was er machte, auch Talent. Er konnte gut Gitarre spielen, obwohl er kein Interesse an einem musischen Beruf hatte. Er konnte gut fotografieren, konnte gut zeichnen, er spielte die Hauptrolle in einer Theateraufführung seiner Schule, er schrieb unterhaltsame Geschichten, aber auch provozierende Aufsätze, aber er wollte weder Fotograf noch Künstler, Schauspieler oder Schriftsteller werden. Er brachte in jeder Klasse gute Leistungen, aber er wollte weder Lehrer noch Geisteswissenschaftler werden. Er war auch nicht daran interessiert, in die Fußstapfen seines Vater zu treten oder auf dem Gebiet der Juristerei, der Naturwissenschaft, der Mathematik, der Wirtschaft oder der Politik tätig zu werden. ... Trotz alledem schien er sozial gut angepasst, wie man es nennt. ...
Jeffreys Freunde wurden nie müde, ihm Vorschläge zu machen, wie er sein Leben gestallten sollte. Würde es ihm keinen Spaß machen, in der Lokalzeitung Filme zu besprechen? Hatte er je daran gedacht, sich aufs Elfenbeinschnitzen oder das Goldschmieden zu verlegen? Die Kunstschreinerei wurde ihm als etwas überaus Befriedigendes ans Herz gelegt. Wie wäre es mit der Fossiliensuche? ... Jeffreys Vater hatte großes Verständnis dafür, dass sein Sohn offensichtlich nicht imstande war, etwas zu finden, was ihn begeisterte. Er unterstützte ihn bereitwillig bei allem, was es seinem Sohn wenigstens wert schien, ausprobiert zu werden. Wenn eine Weltreise irgendeinen Reiz für ihn hatte, dann würde man eine Reiseagentur beauftragen, eine entsprechende Route zusammenzustellen. Wenn er zur See wollte, würde man ihm ein passendes Boot bereitstellen. ... Jeffrey jedoch tat dies alles mit einem höflichen Achselzucken ab, peinlich berührt, weil sich seinetwegen alle solche Gedanken machten.
Ich will hier nicht den Eindruck erwecken, dass Jeffrey faul oder verzogen gewesen wäre. Er war im Studium immer bei den Besten, jobbte nebenher, lebte in einer gewöhnlichen Studentenbude, besaß kein Auto. Er betrachtete einfach die Welt, die sich ihm darbot, und konnte nichts entdecken, das zu besitzen ihm etwas wert gewesen wäre. Seine Freunde sagten ständig zu ihm: "Schau, so kannst du doch nicht weitermachen. Du verzettelst dich. Du musst dir ein Ziel suchen. Du musst irgend etwas finden, was du mit deinem Leben anfangen willst!"
Jeffrey machte seinen Abschluss mit Auszeichnung, aber ohne sich für eine bestimmte Richtung entschieden zu haben. nachdem er den Sommer im hause seines Vaters verbracht hatte, besuchte er zwei Freunde aus dem College, die gerade geheiratet hatten. Er nahm seinen Rucksack mit, seine Gitarre, sein Tagebuch. Nach ein paar Wochen verabschiedete er sich von ihnen, um andere Freunde zu besuchen und fuhr per Anhalter weiter. Er hatte es nicht eilig. Er machte auf seinem Weg immer wieder halt, half ein paar Leuten dabei, einen Schuppen zu bauen, verdiente genug Geld, um sich über Wasser zu halten, und erreichte schließlich sein nächstes Reiseziel. Bald stand der Winter vor der Tür, und er machte sich wieder auf den Heimweg. Er und sein Vater führten lange Gespräche, spielten Rommé, Poolbillard und Tennis, sahen sich Football an, tranken Bier, lasen Bücher, gingen ins Kino.Als der Frühling kam, kaufte sich Jeffrey einen Gebrauchtwagen und fuhr wieder los, um Freunde zu besuchen, diesmal in die andere Richtung. Man nahm ihn gerne auf, wo immer er hinkam. Die Leute mochten ihn, und er tat ihnen leid, weil er so wurzellos, so unfähig, so unkonzentriert war. ...
So vergingen die Jahre. Jeffrey sah zu, wie seine alten Freunde heirateten, Kinder bekamen, an ihrer beruflichen Karriere bastelten, Unternehmen gründeten, hier zu ein wenig Ruhm gelangten, dort zu ein wenige Vermögen, während er weiter Gitarre spielte, hier und da ein Gedicht verfasste und ein Tagebuch nach dem anderen voll schrieb. Letzten Frühling feierte er mit Freunden zusammen in einem Ferienhaus am Lake Wisconsin seinen einunddreißigsten Geburtstag. Am nächsten Morgen ging er ans Ufer hinunter, schrieb ein paar Zeilen in sein Tagebuch, watete dann in den See und ertränkte sich.

Viele würden jetzt sicher ihr Mitleid ausdrücken. Sagen, wie schade es doch um Jeff ist, dass es so endete. Einige würden vielleicht die Schultern zucken und sagen, dass Jeffs Schicksal nicht das einzige ist, das so endet. Es gibt tatsächlich viele Jugendliche, die ähnlich fühlen wie Jeff. Mutter Kultur verbietet es ihnen nur, diese Gefühle offen zu zeigen. Außerdem hatte Jeffrey das Glück einen reichen Vater zu haben. Anderenfalls wäre er wahrscheinlich - wie viele andere auch - in einen Beruf eingestiegen, der ihm nicht wirklich gefiel, und das nur, um zu überleben. Bevor ich noch etwas mehr zu den Hintergründen der Geschichte erzähle, habe ich eine Frage: War Jeffrey wirklich verrückt oder so unnormal, wie ihn alle anscheinend hielten? Die Geschichte von Jeffrey ist wahr. Nicht nur, weil sie in ähnlicher Form auf so viele Jugendliche unserer Zeit zutrifft. Der "wahre" Jeffrey hieß Charles Eppinger. Sein Vater Charles Eppinger hat (als Co-Autor angegeben) das Tagebuch seines Sohnes veröffentlicht und den Briefwechsel zwischen Vater und Sohn (ergänzt durch Erklärungen von Charles) veröffentlicht. Es ist unter dem Titel "Restless Mind, Quiet Thoughts" erhältlich (nur auf englisch).

In Erinnerung an Daniel Quinn (11. Oktober 1935-17. Februar 2018)