Mittwoch, 13. Juni 2018

Fred auf dem Dach

Fred saß auf dem Dach.

Sein hell blondes Haar zeichnete sich deutlich von den braunen Dachziegeln ab und seine hell blauen Augen leuchteten. Ja, heute, jetzt auf dem Dach war einer der wenigen Momente seines jungen Lebens, an dem sie leuchteten. Sie sprühten wie ein fröhliches Laubfeuer im Herbst.

Aber das konnte die Menschenmenge unten nicht sehen. Heute war der Tag, an dem die ganze Nachbarschaft ihn beachtete. All die Jahre, die ganzen verdammten 14 Jahre, die er auf der Welt war, hatte er nie so viel Aufmerksamkeit bekommen, wie jetzt.

Wenn jemand sich das Leben nehmen wollte, kam es von allen Seiten „oh“ und „ach“.

Und vorher?

Wie Ameisen wuselten sie auf der Straße, hilflose, kleine Wesen, ihm zu dienen.

Gott hieß nicht mehr Gott. Er hieß jetzt Fred.

Alle sehen zu ihm auf. Alle gehorchen ihm. Einziger Gedanke: spring da nicht runter.

Fred war der Puppenspieler. Meine Damen und Herren, die Zeit ist um. Rot oder grün? Tod oder Leben? Springen oder nicht?

Fred erhob sich.

„Oh!“, kam es von überall, wie ein Echo. Manche schrieen „Nein!“ und „Junge, pass auf!“ oder „Junge, lass das sein!“

Fred hob seine Arme wie zum Sprung.

Was würden seine letzten Worte sein?

„Ihr seid alle so dumm!“, schrie er aus voller Kehle, öffnete das Dachfenster und stieg wieder ins Haus.



Diese Geschichte schrieb ich 2001 oder 2002 als wir gerade Kurzgeschichten in Deutsch durchnahmen und einige Mitschüler sich beklagten, dass die bisher besprochenen Kurzgeschichten zu langweilig waren. Nun ist der Sinn einer Kurzgeschichte sowieso nicht gerade spannend zu sein. Als ich von der Schule kam, erinnerte ich mich an eine Aufgabe, die ich in einem Buch über Geschichten bzw. Bücher schreiben gelesen hatte. Ich hatte die Aufgabe ursprünglich nicht besonders gemocht. Jetzt hatte ich irgendwie eine Geschichte im Kopf. Man solle sich vorstellen, dass eine Person sich auf einem Hausdach befindet, kurz davor hinunter zu springen. Was wären die letzten Worte? Was wäre der letzte Satz?

Ich wollte meine Person nicht springen lassen, entsprechend das Ende meiner Geschichte. Ich schrieb sie und brachte sie dann zum nächsten Unterricht mit. Die Lehrerin war bereit, die Geschichte in den Unterricht einzubringen. Natürlich musste ich selbst vorlesen. Ich hasse vorlesen.

Einen Satz habe ich leicht abgeändert, weil er offenbar anders verstanden wurde als von mir ursprünglich gedacht. Ansonsten ist die Geschichte ohne weitere Änderungen geblieben, so wie ich sie ursprünglich aufgeschrieben habe.

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